Es braucht eine starke und solidarische entwicklungspolitische Zivilgesellschaft

Leid und Lernen nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen

Mit den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen vom 1. September 2024 wird es vermutlich nicht einfacher für die Engagierten der Eine-Welt-Arbeit in den beiden Bundesländern: In Sachsen bekam die AfD jede dritte Wähler*innen-Stimme. Und in Thüringen wurde die als gesichert rechtsextrem geltende Partei unter Björn Höcke sogar stärkste Fraktion im Landtag. Gleichzeitig erodierte die Zustimmung der wesentlichen parlamentarischen Verbündeten der Entwicklungspolitik: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sind extrem geschwächt in beiden Bundesländern. Die Ampel-Parteien der Bundesregierung bekamen in Thüringen zusammen gerechnet weniger, in Sachsen etwas mehr Prozente als das frisch gegründete Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), welches hinsichtlich der entwicklungspolitischen Unterstützung ebenfalls eher skeptisch bis ablehnend einzuschätzen ist.

Die Wucht der Veränderungen der parlamentarischen Parteienlandschaft in Thüringen und Sachsen ist besorgniserregend: Die offen rechtsextreme AfD und ein in Teilen national-ausgerichteter BSW dominieren die Szenerie mit rund 40 %-45 % der Wählerstimmen und treiben eine ohnehin schon sehr konservative CDU weiter nach rechts.  Währenddessen verlieren SPD, Linke und Grüne deutlich an Gestaltungsmacht, in Thüringen dramatisch. Für die Zivilgesellschaft, migrantische Selbstorganisation, Demokratiearbeit und auch für die entwicklungspolitische Szene in beiden Ländern wird dies eine weitere Verschlechterung der ohnehin schon harschen Arbeitsbedingungen darstellen. Noch am Wahlabend schrieben entwicklungspolitisch Engagierte aus dem Saale-Orla-Kreis/Thüringen, die dort intensiv zu den 17 SDGs in- und außerhalb von Schulen arbeiten: „Eine Katastrophe“. Kolleg*innen vom Eine Welt Netzwerk Thüringen konstatierten, dass sie „ernüchtert und fix und fertig seien“. Emiliano Chaimite, Vorstandsmitglied von dem Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) e.V., Urgestein des entwicklungspolitischen Dresdener Vereins Afropa e.V. und Mitte der 80er Jahre als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen, resümierte im Rahmen einer Presseerklärung des Verbandes: „Diese Entwicklung erfüllt mich mit tiefer Trauer, Enttäuschung und Besorgnis. Es geht nicht nur darum, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird und welche Herausforderungen auf uns Migrant*innen zukommen, sondern ob diese Regionen im Alltag ohne uns Migrant*innen überhaupt funktionieren können.“

Wenngleich es zu früh ist, in der ersten Woche nach den Landtagswahlen, wo Koalitionsgespräche noch nicht einmal stattgefunden haben, die einzelnen Konsequenzen für die entwicklungspolitische Arbeit auszumachen, kann das Folgende bei der nun notwendigen Debatte innerhalb der nicht-staatlichen und staatlichen Entwicklungszusammenarbeit gegebenenfalls hilfreich sein bzw. mitbedacht werden:

  1. Die Resultate fallen nicht vom Himmel. Die ostdeutschen Landesnetzwerke und die Stiftung Nord-Süd-Brücken machen schon seit langem auf die deutlich herausfordernden Kontext-bedingungen in der entwicklungspolitischen Arbeit im Osten aufmerksam. Grundsätzlich ist das BMZ in dieser Hinsicht auch sensibilisiert, offen und unterstützend. Vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen braucht es nun jedoch deutlich mehr an staatlicher Unter-stützung für die mutigen Initiativen und Vereine in Ostdeutschland – finanziell und auch politisch. Gleichzeitig müssen die zivilgesellschaftlichen Verbände, vor allem die agl, aber auch VENRO, nun auf die eigene Agenda setzen, wie sie als Verbände die Arbeit der Kolleg*innen im Osten solidarisch und auch ganz praktisch unterstützen können. Was in der Vergangenheit gefehlt hat, muss nun eingelöst werden: Endlich mal hinfahren zu den Initiativen, sich mit den Bedingungen vor Ort vertraut machen, zuhören und lernen, lang-fristige „Partnerschaftskontakte“ knüpfen, eigene Veranstaltungen auch mal in Ostdeutsch-land stattfinden lassen, dortige Veranstaltungen durch eigene Präsenz stärken und weitere Maßnahmen sind nun schleunigst angezeigt. Viele Initiativen und Engagierte vermissen die Anerkennung der Herausforderungen, ohne gleich zu relativieren oder zu bagatellisieren, dass es ja auch im Westen Rassismus und Rechtsextremismus gäbe. Das ist zwar richtig, verkennt aber die krasseren Kontextbedingungen für die Kolleg*innen in Ostdeutschland.
  2. Die stärkere Unterstützung von Bund und vor allem verfasster Zivilgesellschaft ist umso wichtiger, da erkennbar zu erwarten ist, dass die Zivilgesellschaft und somit auch die entwicklungspolitische NRO-Szene in Sachsen und Thüringen (und in zwei Wochen vermutlich auch in Brandenburg, wenngleich die Verhältnisse bzw. die Parteienlandschaft dort nicht ganz so polarisiert sind) stärker unter Druck geraten wird: Zum einen werden die entwicklungspolitischen Fürsprecher in beiden Landesregierungen weniger. Zum anderen werden die Gegner und Skeptiker von Entwicklungspolitik in beiden Landesregierungen und in den Parlamenten zunehmen. Beides kann bedeuten, dass Landesprogramme für entwick-lungspolitische Projekte gekürzt oder gar in Frage gestellt werden. Da reicht schon der Anstieg der aggressiven Polemik der nun auftrumpfenden AfD in den Parlamenten, um gegebenenfalls die für die Finanzierung und Förderung zuständigen Verwaltungen zu verunsichern und vorsichtiger werden zu lassen. Für die NRO bedeutet dies am Ende einen erheblichen Mehraufwand und es hält sie von der eigentlichen inhaltlichen Kernarbeit ab. Wie sehr das einem Verein zusetzen kann, konnte mensch vor Jahren schon an dem Verein Miteinander e.V. in Sachsen-Anhalt studieren, der ins Visier der AfD-Landtagsfraktion geriet, denunziert wurde und danach sehr lange wieder Vertrauensarbeit in Politik und Gesellschaft machen musste. In Thüringen beobachtet das Landesnetzwerk EWNT bereits jetzt auf kommunaler Ebene, dass die AfD viele kleine Anfragen stellt, manche davon richten sich gegen die Aktivitäten der Mitgliedsvereine, was zur Verunsicherung führt.
  3. Als entwicklungspolitische Zivilgesellschaft werden wir uns schnellstmöglich auch Gedanken darüber machen müssen, wie wir jene Menschen und ihre Vereine – im wahrsten Sinne des Wortes – schützen, die nach den Landtagswahlen in den beiden Ländern „ganz oben“ auf der Liste der AfD stehen: Migrant*innen, Geflüchtete und ihre Vereine, in denen sie sich organisieren. In einer gemeinsamen Presseerklärung von DaMOst e.V. und Migratnetz Thüringen e.V. wird hervorgehoben, dass der steile Aufstieg der AfD eine erhebliche Bedrohung für das Leben von Migrant*innen darstellt und die Arbeit ihrer Organisationen gefährdet. Laut der Verbände besteht die Gefahr, dass die „AfD zivilgesellschaftliche Projekte finanziell aushungert und unsere wertvolle Arbeit untergräbt.“ Die migrantischen Verbände fordern die umfassende politische sowie finanzielle Unterstützung für das Engagement von Migrant*innen – eine Forderung, die nicht nur an den Staat adressiert ist. Auch wir als privilegierte Kolleg*innen müssen die ohnehin oft fragilen Räume migrantisch-diasporischer Arbeit in Ostdeutschland verteidigen und darüber hinaus Maßnahmen überlegen und ergreifen, wie Migrant*innen, Geflüchtete und BIPoC vor dem ansteigenden Rassismus wirksam geschützt werden können. 
  4. Mit der Rechtsverschiebung in Ländern und Parlamenten und der noch tieferen gesellschaftlichen Spaltung wird es – keine Überraschung – noch schwieriger, Themen des Globalen Lernens an die Zielgruppen zu bringen bzw. an die „Verantwortung Deutschlands für die Eine Welt“ zu appellieren. Denn, zum einen ist die Zustimmung zur Entwicklungspolitik in der Bevölkerung bundesweit laut Pollytix-Studie und DEval-Meinungsmonitor Entwicklungspolitik drastisch gesunken. Zum anderen kommt nun in Sachsen und Thüringen erschwerend hinzu, dass Themen wie z.B. Migration, Islam, Klima, Krieg/Frieden und Geschlechtergerechtigkeit, die allesamt profunde entwicklungspolitische Inhalte und Gegenstand entwicklungspolitischer Bildungs- und Informationsarbeit sind, auch AfD-Reizthemen sind – mit diametral anderen Erzählungen und Zielstellungen. Neu und extrem irritierend ist in diesem Kontext, dass die Wahl- und politischen Analyst*innen bereits am Wahlabend mehrfach wiederholten, dass weite Teile der AfD-Wähler*innenschaft diese nun nicht mehr aus Protest, sondern aus Überzeugung wählen würden und der AfD in manchen Themenfeldern sogar die größte Sachkompetenz zugetraut wird. Das heißt, wir werden auf Schulhöfen und Marktplätzen nun noch mehr Gegenwind spüren, wenn es bei Nachhaltigkeitsworkshops heißt, das sei doch „linksgrüne Gehirnwäsche“ oder wenn im Kontext von Diskussionen zu Weltoffenheit der afghanische Mitschüler die Ansage kriegt: „Wenn die AfD regiert, dann seid ihr eh alle weg“. Die entwicklungspolitische Bildungs- und Informationsarbeit, Referent*innen des Globalen Lernens, aber eben auch die Verbände der Zivilgesellschaft und das BMZ bzw. Engagement Global werden sich darauf vorbereiten müssen, zunehmend mit Gegenwehr, Populismus, realen und sozial-medial transportierten und auch geschürten Ängsten zu tun zu haben, die sehr deutlich im Kontrast zu unseren Botschaften stehen. Einfach weitersenden – wie in der eigenen entwicklungspolitischen Blase – macht da keinen Sinn.
  5. Darüber hinaus werden wir genauer hinhören müssen, wer da eigentlich spricht. Es ist ein Plädoyer für eine genauere Zielgruppenanalyse: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die AfD unglaubliche Zuwächse besonders in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen erfahren hat. Die dominante Social Media-Präzenz der AfD bzw. die fehlende Präsenz der bürgerlichen und linken Parteien in den sozialen Netzwerken stellen hier sicherlich einen wesentlichen Grund dar. Perspektivisch braucht es mehr entwicklungspolitische Akteure, die Medien-kompetenz mit der Eine-Welt-Arbeit verbinden. Dabei muss der Dreischritt des Globalen Lernens „Erkennen – Bewerten – Handeln“ in dieser Hinsicht neu gedacht werden. Darüber hinaus gibt es aber weitere Fragen, die zu klären sind. Vor Jahren schon hat die Leipziger Autoritarismus-Studie vor zunehmend autoritären, antidemokratischen Entwicklungen bei jungen Ostdeutschen gewarnt. Woher kommt zum Beispiel der Wunsch, gerade bei jungen Männern im Osten, nach einer offen rechten Diktatur?
    Wir müssen bei unserer Arbeit des Weiteren konzeptionell berücksichtigen, dass die AfD in ländlichen Regionen deutlich stärker ist als in (Groß)Städten. Und hier vor allem in schrumpfenden Regionen – wirtschaftlich und demoskopisch. Und in Grenzregionen. Einiges davon ist SDG 10 pur: Ungleichheiten der Lebensverhältnisse, Stadt-Land-Disparitäten. All diese Aspekte werden bislang in Bildungs- und Informationsangeboten entwicklungs-politischer Akteure unzureichend berücksichtigt bzw. die Zielgruppen in diesen Regionen selten in den Blick genommen.
     

In den beiden zuletzt beschriebenen Punkten liegen vielleicht nicht nur große Herausforderungen vor uns. Vielmehr bietet sich auch eine Chance, über entwicklungspolitische Dialogarbeit bei einem substanziellen Teil der Bevölkerung, die auf Basis eigener realer oder angenommener Ängste in unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens (soziale Sicherheit, ökonomische Sorgen, Angst vor Krieg, Werteordnung…) populistisch oder rechtsextrem gewählt haben, tatsächlich zurückzuholen. Es ist quasi eine doppelte Chance. Eher selten schafft es die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft raus zu gehen aus der eigenen Blase. Hier sind die Kolleg*innen in Freiberg, im Saale-Orla-Kreis, in Sömmerda, aber auch in Halle-Neustadt, Tangermünde, im Ruppiner Land, Waren/Müritz und anderswo tatsächlich schon mal zwei Schritte weiter: Sie sprechen mit den Skeptiker*innen und Gegnern der Entwicklungs-zusammenarbeit. Und sie haben über die Zeit auch erste Erfahrungen und methodische Ansätze gesammelt, wie sich Ansprache und Botschaften ändern müssen.

Im Grunde gibt es in der momentanen Situation zwar viel zu verlieren. Es steht entwicklungs-politisch viel auf dem Spiel, nicht nur in Sachsen und Thüringen: Am 22. September wird in Brandenburg und im nächsten September bereits bundesweit gewählt. Es gibt aber auch etwas zu gewinnen: Dass wir nämlich endlich mal alle zusammenkommen als Zivilgesellschaft und ernsthaft selbstkritisch sowie konzeptionell radikal darüber nachdenken, wie eine zeitgemäße und gesellschaftlich und global relevante entwicklungspolitische Inlandsarbeit aussehen könnte. Unsere Bildungsarbeit muss sich an die aktuellen Gegebenheiten anpassen und beispielsweise von Akteuren der Demokratiebildung lernen bzw. mit ihnen kooperieren, um neue Bildungs-formate zu zulassen. Wir müssen weiter über unser Selbstverständnis als Zivilgesellschaft und NRO nachdenken. An diesem Thema sind die Verbände im Kontext der Gemeinnützigkeits-debatte ja schon dran. Wir müssen insgesamt deutlich offensiver als bislang klarstellen, dass wir politische, gesellschaftspolitische Arbeit machen und dass dies auch zeitgemäß ist angesichts vieler globaler Krisen und eines drastisch schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts. Angst, Zurückhaltung, Stände- und inhaltliches In-the-Box-Denken sind hier definitiv die falschen Leitplanken.

Andreas Rosen ist Co-Geschäftsführer der Stiftung Nord-Süd-Brücken, die in Berlin und Ostdeutschland entwicklungspolitische Arbeit fördert
Franziska Weiland ist Co-Geschäftsführerin des „Eine Welt Netzwerk Thüringen“ (EWNT) und engagiert sich u.a. im Vorstand der Stiftung Nord-Süd-Brücken

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